In Nepal floriert der Sklavenhandel. Jahr für Jahr werden rund 12.000 Kinder und Frauen nach Indien verkauft. Ein Ex-Oberstleutnant der britischen Armee hat der Kindersklaverei den Kampf angesagt.
Shweta* tut etwas, von dem ihr gesagt wurde, dass es ihren Tod bedeuten würde: Sie erzählt ihre Geschichte. Mit ruhiger Stimme spricht die junge Frau darüber, wie sie eines Nachts aus dem Schlaf aufschreckte. Wie der Zirkusbesitzer zuschlug und sich an ihr verging, dem damals gerade zwölf Jahre alten Mädchen. Dass er drohte, sie umzubringen, sollte sie auch nur ein Wort darüber verlieren. Shweta schwieg. Sie ergab sich in ihr Schicksal, das ihr ein Leben als Leibeigene des indischen New Raj Kamal Circus beschied. Dort wurde sie die Hauptattraktion, führte in knappen Kleidchen akrobatische Kunststücke vor.
Der Mann, der Shweta ihre Stimme zurückgab, trägt ein helles Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, und die Sätze, die er spricht, verraten einen melodiösen irischen Akzent. „Wir sind die einzigen“, sagt Philip Holmes, „die den Kampf gegen die Sklaventreiber der Zirkusse aufgenommen haben.“
Vor zehn Jahren hatte Holmes, einst Oberstleutnant der britischen Armee, den Esther Benjamins Trust (EBT) gegründet. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, Kindern in Nepal zu helfen, denen ihre Kindheit gestohlen wurde. Davon gibt es unzählige in dem Himalaya-Staat, der mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von unter 300 Euro zu den ärmsten Ländern der Welt gehört. Und der noch immer unter den Folgen eines über zehn Jahre währenden, zermürbenden Bürgerkrieges leidet. Laut einem im vergangenen Oktober vorgestellten UNICEF-Bericht ist Nepal ein globaler Brennpunkt der Kinderarbeit.
„Dass Kinder hierzulande in der Ziegelsteinproduktion, auf dem Feld oder in Fabriken arbeiten, ist gang und gäbe“, sagt Holmes. Auch der Menschenhandel floriert unter den Rahmenbedingungen extremer Armut und Ungebildetheit – Jahr für Jahr werden nach Schätzungen von Hilfsorganisationen rund 12.000 Kinder und junge Frauen über Nepals Südgrenze nach Indien verkauft. Die Eltern kassieren ein Handgeld von vielleicht 30 Euro, manchmal geben sie sich auch mit leeren Versprechen von großartigen Karrieremöglichkeiten zufrieden.
Bis 2002 war das Schicksal dieser Kinder kaum jemandem bekannt. Erst als EBT-Mitarbeiter Gerüchten nachgingen und in jenem Jahr eine Undercover-Recherche in indischen Zirkussen durchführten, trat die Dimension dieses dunklen Geschäfts zutage: Allein in den dreißig größten Zirkussen zählten sie mehr als 230 nepalesische Kinder unter 14 Jahren, drei Viertel davon Mädchen. Anfang 2004 führte der EBT den ersten „Überraschungsangriff“ durch, wie Holmes seine Befreiungsaktionen gern nennt, und zwar auf einen Zirkus in Kerala am Südzipfel des indischen Subkontinents. 29 Kinder kamen frei. „Mehr als dreihundert“, so Holmes, „waren es seitdem bei ähnlichen Aktionen.“
Holmes’ EBT war es auch, der im Jänner 2007 eine Razzia im New Raj Kamal Circus veranlasste, als dieser im nordindischen Gorakhpur unweit der nepalesischen Grenze gastierte. Der Zirkusbesitzer wurde festgenommen. Er hatte zwanzig nepalesische Mädchen, unter ihnen Shweta, gehalten wie dressierte Tiere. Manche Mädchen sagen, den Tieren sei es besser ergangen.
Heute bringt sie auf einer Holzplatte bunte Kachelstückchen in Form, bis sie sich zum Porträt eines prächtig gekleideten Maharadschas zusammenfügen. Shweta ist nun eine der Mosaikkünstlerinnen des EBT. Zusammen mit vier anderen befreiten Frauen lebt und arbeitet die inzwischen 21-Jährige in einem roten Ziegelhaus auf einer Anhöhe am Rand des Kathmandu-Tals, eine halbe Autostunde südlich der nepalesischen Hauptstadt. Die Mosaike werden als Souvenirs verkauft. Zwischen 7.000 und 11.000 Rupien, 60 bis 100 Euro, verdienen die Mosaikkünstlerinnen damit im Monat. Ein gutes Gehalt, nepalesisch gesehen. „Mindestens ebenso wichtig ist der therapeutische Wert dieser Arbeit“, erklärt Holmes. „Sie gibt den Frauen ihre Würde zurück und ihr Selbstbewusstsein.“
Selbstbewusstsein, Selbständigkeit und Bildung – diese drei Dinge sollen die Leibeigenen zu einem Leben in Freiheit befähigen. „Die meisten der befreiten Kinder sind verschüchtert und vollkommen ungebildet“, sagt Shailaja CM, die aus Südindien stammt. Sie war einmal Nonne. Bis sie zufällig Holmes traf und von seinem Kinderprojekt erfuhr. Jetzt trägt sie einen schwarzen Trainingsanzug und betreut zusammen mit Holmes die drei Schutzheime des EBT im Umland Kathmandus. Knapp hundert Kinder – neben den Zirkuskindern auch einige Gefängnis- und Straßenkinder – leben hier, es gibt Gemeinschaftsschlafräume, ein Musikzimmer, eine kleine Bibliothek und ein Spiel- und Fernsehzimmer mit Teppichboden. Shailaja CM ist streng mit den Kindern: „Einmal pro Woche, freitagabends, dürfen sie den Fernseher einschalten.“ Die restliche Zeit bleibt er unter einer Häkeldecke versteckt.
Auch einen Klassenraum gibt es im hellrosa gestrichenen Haupthaus, wo die Mädchen untergebracht sind. „Nach ihrer Befreiung bekommen die Kinder ein Jahr lang informell Unterricht“, sagt Shailaja CM – ein Crashkurs in Lesen, Schreiben und Lebensführung. „Dann schulen wir sie direkt in die 7. oder 8. Klasse ein.“ Dort sind sie zwar fünf Jahre älter als ihre Klassenkameraden, und ihre Wissenslücken sind enorm. Doch der Kontakt zu Jugendlichen, die in Freiheit aufwuchsen, ist wichtig. Und die Wissenslücken versuchen sie im hauseigenen Klassenzimmer mit Nachhilfeunterricht zu stopfen.
Die seelischen Schäden der Kinder blieben in manchen Fällen lange verborgen. Anfang 2006 kam eine junge deutsche Psychologin, Katharina Tomoff, für einige Monate als EBT-Volunteer nach Kathmandu. Sie stellte dort fest, dass Nepal auch in ihrer Disziplin Entwicklungsland ist: „Das Konzept Psychologie kannte man einfach nicht. Ich erklärte den Einheimischen, ein Psychologe ist wie ein Doktor – nur eben nicht für den Körper, sondern für die Seele.“ In Gesprächen mit den Zirkuskindern bemerkte sie bei fast allen von ihnen Symptome von posttraumatischer Belastungsstörung. Um das Erlebte zu verarbeiten, helfen Gespräche, in denen man sich das Leid von der Seele spricht. Allein, da gab es eine kulturelle Hürde: In Nepal behält man sein Gefühlsleben für sich. Getarnt als Englisch- oder Gesangsunterricht, brachte Tomoff den Kindern bei, ihre Gefühle auszudrücken. Es war eine zweite, psychologische Befreiungsaktion.
Der zweite Bildungsweg, den der EBT den befreiten Kindern eröffnet, fällt mal länger, mal kürzer aus. „Nicht jeder ist akademisch ambitioniert“, sagt Holmes. „Wir unterstützen die Kinder auch in ihren sonstigen Interessen, beim Tanzen, Musizieren, beim Sport.“ Sunita, die Ende 2004 als 14-Jährige aus dem Weston Circus befreit wurde, ist inzwischen Jahrgangsbeste ihrer Schule und wird bald studieren.
Aman, der Anfang 2004 bei der ersten Razzia des EBT freikam, gehörte bei den letztjährigen Nationalen Sportspielen mit sechs Medaillen zu den zehn besten Athleten Nepals. Um das „empowerment“ der ehemals Machtlosen gehe es, sagt Holmes, „in jeglicher Hinsicht“.
Wenn er von dem wieder gewonnenen Selbstbewusstsein Shwetas erzählt, gerät Holmes selbst ins Staunen. „Für Vergewaltigungsopfer ist es nie leicht, über das Erlebte zu sprechen. Doch in dieser Ecke der Erde ist es extrem hart.“ Vergewaltigung ist eine Schande. Ein Tabu. Shweta aber schwieg nicht. Nicht mehr. Anfang des Jahres trat sie im Prozess gegen ihren Peiniger als Hauptzeugin auf. Trotz des Tabus. Trotz der Drohungen des Zirkusbesitzers. Gefasst saß sie ihm gegenüber, schilderte das Geschehene. Als er sie anbrüllte und in seinen Handschellen tobte, sah sie ihm ins Gesicht. Sie sagte: „Diesmal bist du derjenige, der angekettet ist.“
Zahlreiche Zirkusdespoten und Menschenhändler wurden in den letzten Jahren festgenommen, in Indien und Nepal hat der EBT zudem mit seinen Razzien ein beachtliches Medienecho ausgelöst. Holmes ist überzeugt, mit dieser Doppelstrategie den Sumpf der Zirkussklaverei weitgehend trockengelegt zu haben: „Von den dreißig großen Zirkussen hat vielleicht die Hälfte überlebt, und wer dort arbeitet, tut dies heute aus freien Stücken.“
Holmes ist getrieben davon, Nepals Kindern ihre Kindheit zurückzugeben, seit er im Sommer 1999 den Esther Benjamins Trust ins Leben rief. Er gab der Organisation den Namen seiner Frau. Sie hatte sich wenige Monate zuvor das Leben genommen, weil sie keine Kinder bekommen konnte. Ein Leben ohne Kinder ist sinnlos, stand in ihrem Abschiedsbrief.
*Name geändert
Markus Wanzeck arbeitet im Berliner Büro des Reporternetzwerks Textsalon (www.text-salon.de). Er schreibt unter anderem für die Magazine „Brand eins“ und „Neon“ sowie die Wochenzeitung „Die Zeit“.
Weiterführende Links:
www.ebtrust.org.uk: Website des Esther Benjamins Trust (EBT).
www.hatemalo.de: Website von „Hatemalo – Hand in Hand für Nepal“, der deutschen Schwesterorganisation des EBT.
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